Tag 3: Samstag, 29. September 2018
Ich gehe aus diversen Gründen am Zurich Film Festival lieber an Pressevorführungen als in reguläre Vorstellungen: Ohne Werbung, Anmoderationen oder Q+As sind sie zeitlich viel einfacher zu managen, man bekommt als Journalist immer einen Platz und auch das Publikum ist deutlich entspannter. Darum freue ich mich, dass ich heute gleich vier Pressevorführungen schauen kann und mir so keine Sorgen um Überlängen machen muss.
Es ist zwar erst der dritte Tag, aber die Tatsache, dass ich jeden Tag früh aufstehe und spät schlafen gehe, macht sich bereits ein bisschen bemerkbar. Auch der erste Film steht schon früh an, und mit viel Skepsis begebe ich mich ins Kino. Eine Schweizer Komödie von Michael Steiner – jeder einzelne dieser drei Faktoren kann sowohl gut als auch schrecklich ausgehen. «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» (5/5) heisst der neue Film des Regisseurs und man kann beruhigt aufatmen: Dieses Mal ging es nicht schief.
Joel Basman spielt Mordechai «Motti» Wolkenbruch, der sich von seiner jüdischen Familie partout nicht unter die Haube kriegen lassen will. Als er sich dann auch noch in eine «Schickse» (also eine Nicht-Jüdin) verliebt, ist das Drama perfekt. Sicher, die Geschichte über die schwierige Abnabelung von seiner Familie ist keine Neue, aber Michael Steiner erzählt sie mit soviel Charme, dass man einfach nicht anders kann, als diesen Film zu mögen. Da stört es auch nicht, dass Noémie Schmidt als Westschweizer Schickse etwas gar gefangen in ihrem Rollentyp als unbeschwertes Traumgirl zu sein scheint. Es ist dem Film (und mit ihm Steiner) zu wünschen, dass der Erfolg auch an den Kinokassen nicht ausbleibt.
Etwas weniger unbeschwert geht es in «The Tale» (3/5) zu und her. Basierend auf ihren echten Erlebnissen erzählt Jennifer Fox von einer Filmemacherin, die von ihrer Vergangenheit eingeholt wird, und dabei merkt, dass sie sich einen Missbrauch als Teenager ihr Leben lang schöngeredet hat. Ein wichtiges Thema, gerade heute, wo immer mehr Frauen, die erst Jahrzehnte später über Missbrauch reden, nicht ernst genommen werden. Erzählerisch kann man Jennifer Fox, die geschickt mit der Erinnerung und Wahrnehmung ihrer Protagonistin und damit sich selbst spielt, nur den Vorwurf machen, dass ihr Film deutlich zu lang geraten ist. Was «The Tale» für mich jedoch wirklich zu einer schwierigen Angelegenheit macht, ist die Hauptdarstellerin Laura Dern, die bis zum Schluss irgendwie recht blass bleibt – leider.
Eigentlich recht spontan ist der eindrückliche «Colette» (4/5) auf meinem Schirm gelandet, doch ich überbrücke die Lücke in meinen ZFF-Plan sehr gerne mit einem weiteren Film. Die Prämisse von Wash Westmorelands Film erinnert an «Big Eyes» oder «The Wife» – beides Filme über erdrückende Ehemänner, die den Ruhm für die Arbeit ihrer Frauen einheimsen. Das ist auch hier nicht anders: Die titelgebende Colette (Keira Knightley) ist eine junge Frau vom Land, die einen Schriftsteller in Paris heiratet. Als sie für ihren Mann einen Roman über ihre Erfahrungen, schreibt, landen die beiden einen Bestseller. Es folgen Fortsetzungen, stets geprägt von den eigenen Erfahrungen des Paares. Auf dem Cover prangt jedoch nur der Name ihres Mannes.
Es ist denn auch – man mag es eigentlich gar nicht hervorheben – ausgerechnet der Mann in «Colette», der herausragt. Dominic West spielt seine Figur so subversiv und so facettenreich, dass man zwar nie auf den Gedanken kommt ihn zu mögen, aber in ihm auch nicht den abscheulichen Bösewicht sieht, der er im Grunde ist. Und so kann man irgendwie nachvollziehen, dass sich Colette nicht von Anfang an gegen ihn stellt, sondern sich von ihm immer und immer wieder um den Finger wickeln lässt.
«Dead Pigs» (4/5) heisst mein nächster Film, ein chinesisches Drama über tote Schweine und fünf Menschen, deren Leben diese toten Schweine plötzlich auf den Kopf stellen. Ich weiss ehrlich gesagt nicht mehr, warum ich diesen Film damals als ich ihn ausgesucht habe, so reizvoll fand – aber er landete auf meiner Liste, und ich bin rückblickend sehr froh darum. Alles in «Dead Pigs» ist ein bunter, überdrehter Film, bei dem man nie so richtig weiss, ob das alles nicht doch viel realistischer ist, als wir glauben. Cathy Yans Langfilmdebüt zieht einen mit seinen schrägen Charakteren und seinem absurden, eigenartigen Humor sofort in seinen Bann.
Zum ersten Mal am Zurich Film Festival schaue ich mir einen Film im neuen Kino Kosmos an, das dieses Jahr neu mit dabei ist. Das heisst, genau ein Film wird dort gezeigt, und dies nur gerade zweimal. Das ist ein bisschen eine Verschwendung, denn das neue Kino wäre mit seiner angenehmen Einrichtung und den gut ausgerüsteten Sälen eine perfekte zusätzliche Location für das Festival – vielleicht in den kommenden Jahren? Für dieses Jahr bleibt es aber zunächst bei nur einem Film: «Roma» (5/5) von Alfonso Cuarón, der erste Netflix-Film ist, der am Festival gezeigt wird.
Von Trailer und Bildern wenig beeindruckt setze ich mich also in den Film. Als ich im Kino sitze, stelle ich fest, dass das die erste ZFF-Vorstellung des Jahres ist, die ich alleine besuche. Bei den vorherigen Festivalfilmen waren entweder befreundete Journalisten oder sonstige Freunde mit mir im Kino, doch nicht so diesmal. Und so erliege ich diesem schwarzweissen Meisterwerk des mexikanischen Regisseurs ganz allein – aber bin dabei alles andere als einsam. «Roma» ist eine Wucht. Der Film erzählt vom turbulenten Leben einer Familie aus der Mittelschicht im Mexiko der Siebziger-Jahre. Cuaróns nüchterner und ungeschönter Blick auf diesen kleinen Mikrokosmos und vorallem auf die starken Frauenfiguren, die diesen prägen, entlockt dem einfachen Alltag dieser Familie ungeahnte Schönheit. Für mich der absolute Höhepunkt des Festivals – und auch der meines Kinojahres.